Der Übervater der Rheintaler Ringer

Gerhard Huber schreibt über "urgesteine" in der Rheintaler Sportszene.

Kaum jemandem haben die Rheintaler Ringer mehr zu verdanken als Paul Dietsche. Gemeinsam mit anderen Gründungsmitgliedern hat er vor 48 Jahren die Ringerstaffel aus der Taufe gehoben. Als Präsident hat er die RSK mit einer Gruppe Gleichgesinnter über Jahrzehnte zu vielen Erfolgen geführt. Zu Erfolgen, die der heute 77-Jährige als mehrfacher Schweizer Meister im Freistil und im Greco auch selbst errungen hat.

«In meiner Zeit hat sich der Ringsport sozusagen selbstständig gemacht. Bis in die Siebzigerjahre hinein waren die Ringer ein Teil der Turnverbände, der Nationalturner. Sie sind damit auch immer wieder Teil der politischen Ränkespiele der damals noch nach Gesinnung ausgerichteten Verbände wie dem ETV, dem SKTSV oder dem Arbeiterringerverband geworden. Dann endlich wurde mit dem SARF ein eigener Verband nur für die Ringer gegründet. Ich übernahm die Funktion des ersten technischen Leiters für den Ostschweizer Verband.»

Paul Dietsche, der mit 15 Jahren mit diesem Sport angefan-gen hat, gewann bei der ersten Schweizer Meisterschaft für Junioren in Arbon gleich seinen ersten Titel. Über Jahre hinweg zählten sein Bruder Beat Dietsche und er in den Gewichtsklassen bis 70 und bis 74 kg zu den stärksten Schweizer Kämpfern. Noch heute kann er seinen Ärger darüber nicht ganz verbergen, dass er in Hinsicht auf die Olympia 1964 in Tokyo dreimal in Zürich Ausscheidungskämpfe bestreiten musste und diese dreimal gewonnen hatte – dennoch wurden damals, als es noch keine Kontrolle durch Swiss Olympic gab, durch die Turnverbände ihnen genehmere Ringer nach Tokyo geschickt.

«Oft habe ich mich im Nachhinein gewundert, dass ich nach dieser Enttäuschung weitergemacht habe. Drei- bis viermal pro Woche war ich am Mittag zum Rhein gegangen, um zu trainieren, um mich an den T-Trägern der Transportbrücke entlangzuhanteln. Daheim habe ich mit einer 50-kg-Hantel, ohne Trainingsplanung für Kraft oder Kondition, trainiert. Niemand hat mich unterstützt. Heute ist das für Olympiakandidaten nicht mehr denkbar. Zu der Zeit waren im Ringen und teils auch im Nationalturnen Basel, Zürich, Bern und Genf tonangebend. Jetzt sind sie komplett von der Bildfläche verschwunden. Nach der Gründung unseres Ringerverbandes wurde nach und nach alles besser, auch für die Spitzenringer. Für fast alle Staffeln, die als Dorfverein gestartet waren, wurden eigene Clubs gegründet. Es hat zum Teil Parallelstrukturen mit den Turnverbänden gegeben, doch die, die starke Turnergruppen hatten, hatten schnell starke Ringermannschaften.»

Zum Ringen gekommen ist Dietsche über seinen ältesten Bruder Peter. Alles begann beim KTV Kriessern. In Kriessern hatte es immer nur den katholischen Turnverein gegeben. Damals wurde in den Dörfern die politische und konfessionelle Ausrichtung noch über die Sportvereine manifestiert. Als die Ringerstaffel Kriessern dann vor 48 Jahren als reiner Ringsportclub gegründet wurde, war er von Anfang an dabei.

«Aus dieser Zeit stammt auch die gesunde Rivalität mit den Sportkollegen aus Oberriet. Bei Gründung der Verbände hatte auch der St. Galler Nationalturnverband eine eigene Ringerstaffel gegründet, aus einigen Spitzenringern daraus entstand dann die Oberrieter Staffel. Da ist es dann gleich losgegangen mit der Lokalrivalität – die beide Vereine zu guten Leistungen gepusht hat. Die Derbys in der obersten Liga sind bis heute legendär. Nach dem Abstieg der Oberrieter haben wir uns gegenseitig Leihringer zur Verfügung gestellt.»

Die erste echte Ausbildung auf einer Matte holte sich eine Gruppe Ringer vom KTV Kriessern unter Noldi Baumgartner in einer «steinzeitlichen» Halle in Götzis, wo man zweimal wöchentlich mit dem Velo hinfuhr. Auch aktuell arbeiten die Kriessner mit den Vorarlberger Vereinen aus den Ringerhochburgen Klaus und Götzis zusammen. Das ist für das Training optimal, da sich so in der Kriessner Halle regelmässig 25 bis 40 Ringer versammeln. Paul Dietsche selbst musste mit 28 Jahren den aktiven Sport aufgeben.

«Ich hatte immer Mühe mit dem linken Knie. Ein Skiunfall mit nachträglicher Meniskusoperation beendete meine Karriere als Aktiver mit 28 Jahren. Inzwischen habe ich auch ein künstliches Gelenk, das es mir heute ermöglicht, noch viel Sport zu treiben. Hauptsächlich mit dem Rennvelo und dem Mountainbike, mit dem ich zwischenzeitig einmal aufgehört hatte. Denn da musst du, um sicher unterwegs zu sein, voll da sein. Es ist ein super Koordinationstraining. Heute fahre ich nur noch gut befahrbare Wege. Wenn man körperlich aktiv ist, ist man auch geistig wach. Bücher lesen, mit vielen Leuten diskutieren und reden sowie meine anspruchsvolle Aufgabe bei der RSK: Das hält geistig beweglich und fit.»

Auch im Beruf legte Paul Dietsche Sportlichkeit an den Tag. Nach der Sekundarschule machte er eine Lehre als Verkäufer an der damaligen «Berufsschule für Verkäuferinnen» (20 Schülerinnen und zwei Schüler). Auf dem Weg zur Weiterentwicklung seiner Führungskompetenz bekam er vom legendären SFS-Gründer und Rheintaler Unternehmer Hans Huber im Alter von 48 Jahren die Chance, den SKU, den Kurs für Schweizerische Unternehmensführung, zu besuchen. Er bekam vor Beginn dieses Kurses einen schweren Stoss mit komplexen Fachbüchern über Wirtschaft und Führung, um sich vorzubereiten. Er schaffte es, sich neben Beruf und Familie durch diesen Bücherturm durchzuarbeiten. Und dann begann der Kurs.

«Da sassen dann elf Leute im Seminarraum, davon acht Akademiker. Es stellte sich aber bald heraus, dass die Akademiker auf das Wissen und die Erfahrung der «Gewöhnlichen» angewiesen waren. Anschliessend verbrachte ich noch zweimal acht Wochen für einen Sprachaufenthalt in Nizza. Das kam zum richtigen Zeitpunkt, denn Chef Hans Huber hatte sich entschieden, in der Westschweiz einen Handelsbetrieb für Beschläge und Bauteile zu übernehmen. Da lernte ich als Geschäftsführer mit unterschiedlichen Wirtschaftskulturen und ganz anderen Ansprüchen der Mitarbeiter umzugehen. Alle waren sich einig, dass es eine feindliche Übernahme war. Der Widerstand war anfänglich recht gross. Aber dank einer guten Unterstützung unseres damaligen Bereichsleiters Beat Langenegger haben wir es geschafft. Heute ist es ein gut integrierter und funktionierender SFS-Betrieb.»

Seine sportlichen und beruflichen Erfolge wurden Dietsche nicht unbedingt in die Wiege gelegt. Aufgewachsen ist er in einer Bauernfamilie mit sechs Brüdern und zwei Schwestern in einem kleinen Landwirtschaftsbetrieb mit 15 Stück Vieh. Da war es selbstverständlich, dass alle sechs Buben mitgearbeitet haben.

«Verwöhnt wurde niemand, auch der Wohnkomfort liess nach heutigen Massstäben einiges zu wünschen übrig. Dennoch war die Jugendzeit voller Überraschungen und Abenteuern. So haben wir an den Viehschauen geraucht und beim Viehhüten im damals noch klaren Zapfenbach Forellen gefangen. Was ganz klar war: Der Sport kam ganz am Schluss. Trainiert wurde nach der Hofarbeit und an Sonntagen.»

Die grosse Stütze in seinem Leben war seine Frau Ottilia, die er an einem Nationalturntag in Galgenen kennen gelernt hatte. 49 Jahre waren die beiden miteinander verheiratet. Sie ist vor vier Jahren nach langem Leiden an der heimtückischen Krankheit ALS verstorben. Das Paar durfte sich über drei Söhne freuen. Und mittlerweile ist Paul Dietsche achtfacher Grossvater.

«Ich habe acht Enkelinnen. Und das als Ringerpräsident mit der Verantwortung für die Nachwuchsförderung! Als ich meine Frau Ottilia beim Nationalturntag in Galgenen kennen gelernt habe, war sie Kindergarten-Praktikantin bei einer dreizehnköpfigen Familie. Das Lehrerseminar besuchte sie im Kloster Menziken und sie hatte noch ein Jahr vor sich. Da konnte ich ihr nicht einmal Briefe schreiben, da die geistlichen Schwestern alles mitgelesen haben. Wenn ich meinen Enkelinnen, die zurzeit ihre Ausbildung in einem Seminar machen, vom damaligen Besuchs- und Schreibregime erzähle, bekommen sie Lachkrämpfe. Einfach waren die anfänglichen Umstände unserer Beziehung nicht. Die Strecke Kriessern – Beckenried und zurück ohne Autobahn mit dem VW Käfer waren eine echte Herausforderung. Ich schaffte es in jeweils fünf Stunden. Zweimal wurde es aufgrund von kleinen Aussetzern knapp, einmal beim Hirschensprung und einmal bei der Autobahnbaustelle Sargans. Nach meiner Pensionierung hatten wir noch zehn sehr schöne Jahre miteinander. Ich habe nach dem Verlust von Ottilia einen nicht leichten Prozess durchgemacht, habe aber auch begriffen, dass man eher nach vorne und weniger zurückschauen muss.»

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